„Tasten allein reicht schon lange nicht mehr“ – Erweiterte Prostatakrebs-Früherkennung
Gesetzlich versicherte Männer ab 45 Jahren erhalten auf Kassenkosten zur Früherkennung von Prostatakrebs jährlich eine digitale rektale Tastuntersuchung (DRU). Die Bestimmung des PSA-Werts (prostataspezifisches Antigen) gehört nach wie vor jedoch nicht dazu. Seit Jahren setzt sich daher die Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU e.V.) für eine erweiterte Früherkennung ein. Welche Forderungen die Fachgesellschaft für eine bessere Vorsorge stellt und inwieweit sich da möglicherweise künftige Änderungen abzeichnen, erörterte der änd (Ärztenachrichtendienst Verlags-AG) mit dem DGU-Generalsekretär Prof. Maurice Stephan Michel, Lehrstuhlinhaber und Direktor der Universitätsklinik für Urologie und Urochirurgie an der Universitätsmedizin Mannheim der Universität Heidelberg.
Herr Prof. Michel, wie relevant sind Prostatakarzinome hierzulande aktuell?
Wir haben in Deutschland eine weitestgehend stabile Erkrankungshäufigkeit bei rund 70.000 Neuerkrankungen jedes Jahr. Das Prostatakarzinom hat unter den Tumorerkrankungen bei Männern die höchste Inzidenz und die zweithöchste Krebsmortalität. Die relative 5-Jahres-Überlebensrate liegt bei den Betroffenen bei rund 90 Prozent. Rund 15.000 Männer sterben hierzulande jährlich an einem Prostata-Ca (2019: 68.579 Erkrankungsfälle vs. 15.040 dadurch bedingte Todesfälle).
Hinzu kommt, dass zu spät erkannte und daher nicht mehr kurativ heilbare Karzinome häufig zu Beschwerden und Schmerzen durch Metastasen führen. Diese Patienten müssen jahrelang palliativ aufwändig und kostenintensiv medikamentös behandelt werden.
Etwa zwei Drittel der Tumoren werden in jedoch einem frühen und damit üblicherweise sehr gut behandelbaren Stadium (UICC I/II) diagnostiziert. Gerade bei der Diagnose von diesen frühen Erkrankungsstadien nimmt der PSA-Test als Basisuntersuchung eine Schlüsselrolle ein, da Frühstadien bei der digitalen Tastuntersuchung (DRU) oft nicht auffallen.
Der Erkrankungsgipfel liegt bei den über 60-Jährigen, es gibt jedoch immer wieder auch deutlich jüngere Patienten mit einem Prostatakarzinom. Hier kommt häufig eine mögliche familiäre Belastung ins Spiel, die unbedingt beachtet werden sollte im Sinne von gegebenenfalls vorgezogenen Kontrolluntersuchungen bei nahen männlichen Verwandten oder aber zumindest dem dringenden Hinweis, die vorgesehenen Früherkennungsuntersuchungen unbedingt wahrzunehmen und dabei auch den PSA-Wert bestimmen zu lassen.
Wie viele Männer ab 45 Jahren nehmen Untersuchungen zur Früherkennung von Prostatakrebs denn überhaupt wahr?
An der KFU, also der klassischen Krebsfrüherkennungsuntersuchung mit einer digitalen Tastuntersuchung im Rahmen der vorgesehenen Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherungen, nehmen zwischen rund 17 Prozent (Altersgruppe 50 bis 54 Jahre) und 24,8 Prozent (Altersgruppe 60 bis 64 Jahre) teil. Eine Bestimmung des PSA-Werts lassen zwischen 20,4 Prozent (Altersgruppe 50 bis 54 Jahre) und 35,78 Prozent (Altersgruppe 60 bis 64 Jahre) vornehmen als individuelle Gesundheitsleistung (1). Inkludiert sind hierbei die privat versicherten Patienten. Die Kosten dafür liegen – je nach Labor – zwischen 20 und 30 Euro.
Wie sehr sich diese Investition lohnt, zeigen erste Daten aus der PROBASE-Studie, einer deutschen Prostatakrebs-Screening-Studie. Daraus lässt sich ableiten, dass Männer ab 45 Jahren in einer urologischen Praxis vorstellig werden sollten, um dann auch den PSA-Wert bestimmen zu lassen für eine Ausgangsbefundung. Männer, bei denen eine familiäre Belastung vorliegt, sollten sich bereits ab 40 Jahren urologisch beraten lassen. Die Folgetermine können danach je nach Risikoprofil – erstellt mit individuellen Risikokalkulatoren – vereinbart werden; die starren jährlichen Kontrollen würden demnach nicht mehr zum Standard gehören.
Welche Daten liegen denn aktuell vor zu den verschiedenen Verfahren der Früherkennung eines Prostatakarzinoms?
Die Auswertung der PROBASE-Studie hat gezeigt, dass die alleinige DRU – also die derzeitige Früherkennung auf Kassenkosten – viele falsch positive Tastbefunde ergibt. Gerade dies sollte natürlich vermieden werden, um keine Verunsicherung der Patienten und keine unnötige, teils invasive Diagnostik zu initiieren.
Der geschätzte Anteil der Patienten mit einem kontrollierten PSA-Wert von mehr als 3,0 ist altersgruppenabhängig. Bei der Gruppe der 50- bis 54-Jährigen liegt er erwartungsgemäß bei etwa 7 Prozent. In der Altersklasse der 60- bis 64-Jährigen hingegen bei rund 18 Prozent. Wenn diese Patienten mittels Risikokalkulator in der urologischen Praxis weiter analysiert werden, dann ist zu erwarten, dass etwa 60 Prozent dieser herausgefilterten Patienten zur weiteren Abklärung ein multiparametrisches MRT (mpMRT) der Prostata benötigen.
Etwa 40 Prozent dieser Patienten haben dann erwartungsgemäß einen MRT-Befund, der mittels Biopsie analysiert werden sollte. Denn nur eine Biopsie sichert ab, ob und welches Prostatakarzinom vorliegt. Bei niedrig aggressiven Karzinomen kann prinzipiell eine Überwachung erfolgen, bei aggressiven Formen gegebenenfalls eine Umfelddiagnostik und dann eine angepasste Therapie.
Die DGU setzt sich forciert für eine erweiterte Früherkennung ein, die auch eine PSA-Wert-Bestimmung beinhaltet. Auf welcher wissenschaftlichen Basis?
Die Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU) plädiert auf Basis ihrer eigenen Leitlinienempfehlungen für das Angebot einer Prostatakrebs-Früherkennung ab 45 Jahren. Der EU-Rat empfiehlt den Ländern eine schrittweise wissenschaftlich begleitete Einführung eines Prostatakarzinom-Früherkennungsprogramms. Mit Blick auf die Ergebnisse der PROBASE-Studie und der aktuellen mpMRT- und Fusionsbiopsie-Studien erscheint in einem ersten Schritt eine fachurologische Beratung der 50- bis 65-jährigen Männer über den Nutzen und die möglichen Folgen einer Prostatakrebs-Früherkennungsuntersuchung auf Basis des PSA-Tests als GKV-Leistung in Deutschland dringend erforderlich.
So kann jeder Mann in dieser Altersgruppe selber informiert entscheiden, ob er dies möchte oder nicht. Soziale Ungleichheit darf bei einer solch wichtigen Früherkennungsuntersuchung nicht zu Ungleichheiten in der medizinischen Versorgung führen. Jüngere oder ältere Männer als die eben genannte Altersgruppe müssen sich aber wohl noch etwas gedulden und sich individuell bezüglich ihres Risikos in der urologischen Praxis entsprechend der Leitlinienempfehlung der DGU beraten lassen, solange das GKV-Angebot sie in das Früherkennungsprogramm noch nicht einbezieht. Es ist wünschenswert, dieses vorgeschlagene Früherkennungsprogramm in 5 Jahren zu reevaluieren und entsprechend zu adaptieren.
Die optimale Früherkennung sähe aus DGU-Sicht so aus, dass diejenigen Männer, die einen PSA über 3,0 haben, mittels Risikokalkulator urologisch klassifiziert werden in die einen, die eine weiterführende Diagnostik mittels mpMRT benötigen, und in die anderen, die fachurologisch kontrolliert werden. Je nach Risikokonstellation, basierend auf den erhobenen Befunden und dem mpMRT, erfolgt bei höhergradigem Verdacht eine Fusionsbiopsie. Dieses Vorgehen ist europaweit konsentiert und wird in einigen anderen europäischen Ländern so umgesetzt (2).
Warum ist die Bestimmung des PSA-Werts hierzulande noch immer keine Kassenleistung im Rahmen der Prostata-Ca-Früherkennung? Und wie steht Deutschland im internationalen Vergleich da?
Der PSA-Test wurde beim sogenannten Screening in anderen Ländern, insbesondere in den USA, häufig sehr breit und unkritisch angewendet. Damit wurden Karzinome auch bei Patienten diagnostiziert, die auf Grund ihrer limitierten Lebenserwartung nicht am, sondern mit dem Prostatakarzinom gestorben sind. Hierdurch ließ sich die Gesamtmortalität fälschlicherweise nicht gut senken. Zudem waren in Deutschland häufig die Themen „unnötige Biopsien“ sowie „Überdiagnostik und Übertherapie gering aggressiver Prostatakarzinome“ ein Diskussionspunkt.
Die wissenschaftlichen Entwicklungen mit den Risikokalkulatoren, dem mpMRT und der Fusionsbiopsie in der Diagnostik sowie die deutlich schonenderen Beobachtungs- oder Therapiemöglichkeiten werden diesbezüglich leider bei uns nicht wahrgenommen. Stattdessen bleibt es bei der stigmatisierenden und für eine Reihe von Patienten tödlichen Behauptung, man würde nicht an, sondern mit Prostatakrebs sterben.
Denn wir wissen inzwischen, dass sich mit einer zusätzlichen Bestimmung des PSA-Werts die Sterberate aufgrund eines Prostatakarzinoms zwischen dem Jahr 1994 mit 29,8/100.000 auf 18.8/100.000 bis zum Jahr 2017 deutlich senken ließ (Daten: Zentrum für Krebsregisterdaten).
Und in den USA wurde die auf dem PSA-Wert beruhende Früherkennungsempfehlung 2012 zurückgenommen. Im Verlauf danach kam es zu einem signifikanten Anstieg von Hochrisikokarzinomen und von Rezidiven (3). Als Ergebnis dieser erschütternden Daten wurde dort daraufhin der PSA-Test wieder eingeführt.
Es ist sehr traurig, dass in Deutschland die Männergesundheit scheinbar zu Tode geschwiegen wird und die medizinischen Entwicklungen ignoriert werden. Schweden zum Beispiel hat aufgrund der Evidenz reagiert und ein Früherkennungsprogramm für das Prostatakarzinom aufgelegt, das sich wie unser Vorschlag für Deutschland auf die Evidenz und den europäischen Vorschlag bezieht. Es ist eindeutig zu erwarten, dass bei diesem Vorgehen die Sterblichkeit nochmals sinken wird und auch der Anteil metastasierter Prostatakarzinom-Stadien.
Wie bewerten Sie das als Urologe und DGU-Vertreter?
Aus meiner Sicht ist es zutiefst beschämend, wie mit dem Thema Männergesundheit und Prostatakarzinom-Früherkennung in Deutschland umgegangen wird. Nicht nur die Beratung, sondern auch der PSA-Test sowie das mpMRT der Prostata und die Fusionsbiopsie sind entweder gar nicht oder nicht ausreichend finanziert für gesetzlich versicherte Männer in Deutschland. Damit wird evidenzgesicherte Früherkennung zum Thema für privat Versicherte beziehungsweise Männer, die die Kosten übernehmen können. Gesetzlich versicherten Männern, die sich diese Untersuchungen nicht leisten können, bleibt diese Möglichkeit zur Früherkennung und damit zur Prävention einer metastasierten schweren Tumorerkrankung verwehrt.
Inwieweit engagiert sich die DGU für eine erweiterte Vorsorge und wie ist da der Stand der Dinge?
Die DGU hat sich mehrfach an das BMG gewendet – auch mit einem Brief direkt an Dr. Karl Lauterbach –, allerdings ohne bislang spürbare Resonanz. Der G-BA hatte sich durchaus mit Teilaspekten der Prostatakarzinom-Früherkennung beschäftigt, sich aber seinerzeit in einer knappen Abstimmung gegen den PSA-Test entschieden. Hier sollte auf Basis der europäischen Empfehlung eine Diskussion über ein strukturiertes Früherkennungsprogramm für eine definierte Altersgruppe erfolgen. Ein offizielles Verfahren hierzu gibt es jedoch nicht.
Mit unserem Anliegen haben wir uns als Fachgesellschaft darüber hinaus auch an den aktuellen Vorsitzenden der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) gewandt, also an den baden-württembergischen Gesundheitsminister Manfred „Manne“ Lucha, der das Thema Männergesundheit bei seinem Amtsantritt als ein besonderes Anliegen formuliert hatte. Aber auch er sieht aktuell keinen Handlungsbedarf, die Prostatakarzinom-Früherkennung durch ein solches zeitgemäßes Programm gesetzlich versicherten Männern zu ermöglichen.
Mit Blick in die „Glaskugel“: Wie wird es diesbezüglich weitergehen?
Ich hoffe sehr, dass es gelingen wird, dass Deutschland nicht das Schlusslicht in Sachen Männergesundheit und Prostatakarzinom-Früherkennung in Europa wird. Wir sind leider aber auf dem Weg dorthin. Eine solche gesundheitliche Ungleichheit innerhalb der EU wird dazu führen, dass wir in Deutschland hinsichtlich palliativer Therapie und krebsbedingter Sterblichkeit in Bezug auf das Prostatakarzinom dann einen der Spitzenplätze einnehmen werden. Nur durch ein zügiges Handeln und ein Umsetzen der Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Urologie sowie der Europäischen Gesellschaft für Urologie kann dafür Sorge getragen werden, dass alle Männer mit Interesse an ihrer Gesundheit von einer zeitgemäßen Früherkennung des Prostatakarzinoms profitieren – und nicht nur Selbstzahler und Privatpatienten.
Und bis es soweit ist, kann ich nur all meinen urologisch tätigen niedergelassenen Kollegen und Kolleginnen ans Herz legen, ihren an Früherkennung interessierten Patienten die PSA-Wert-Bestimmung als einen der Basisbausteine der Diagnostik anzubieten trotz der belastenden Kostensituation, die dem einen oder anderen sicherlich schwerfallen wird. Doch ich halte diese Form der erweiterten Früherkennung aufgrund der vorliegenden Studiendaten für ausgesprochen wichtig.
Erfreulicherweise übernehmen bereits erste Krankenkassen die Kosten der PSA-Bestimmung, überwiegend Betriebskrankenkassen, doch das im Falle von Krebs-Verdachtsmomenten dringend erforderliche mpMRT mit Kosten von rund 500 Euro wird bislang nur von wenigen Kassen übernommen und lässt sich ansonsten nur als Selbstzahlerleistung ermöglichen.
Quelle
änd Ärztenachrichtendienst Verlags-AG
Interview mit Prof. Maurice Stephan Michel, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU)
Lehrstuhlinhaber und Direktor der Universitätsklinik für Urologie und Urochirurgie an der Universitätsmedizin Mannheim der Universität Heidelberg
Autorin Interview: Jutta Heinze
Veröffentlicht am 23.07.2023 im geschlossenen Mitgliederbereich
Literatur/Referenzen:
1. Starker A. und Saß AC. et al. (2013).
2. Van Poppel H., Hogenhout R., Albers P. et al. (2021), van Poppel et al. 2022, Eur Uro, Alterbeck et al. 2022, Eur Uro Focus
3. Ahlering et al. 2019, World J Uro